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Die Besprechung von Horst Haase, in:
JahrBuch für Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2011; Heft 3, S. 183-185.
Als ich 1954, an meiner Dissertation über eine expressionistische
Zeitschrift arbeitend, deren noch lebende Autoren zu einigen sachlichen
Problemen befragte, erhielt ich aus London Post von Kurt Hiller, die
ich in ihrem Inhalt wie in der Form als sehr ungewöhnlich empfand:
sich scharf abgrenzend, unversöhnlich polemisch und in einem
satirischen sprachlichen Gestus von der Art
„vogesenbluboal“ und „Schickele-Cliquele“
schrieb er über seine damaligen Mitautoren. Ich konnte seinerzeit
nicht viel damit anfangen. Und auch anderen mag es so ergangen sein,
wenn der ihm zeitweilig sehr nahe stehende Vf. des vorliegenden Buches
bestätigt, dass Hiller nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1955
nicht mehr „mit derselben Effektivität“ (S. 115)
wirksam geworden sei, wie das in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. der
Faß gewesen war.
Dem frühen Kurt Hiller, dem Vordenker und Wegbereiter des
Expressionismus und Aktivismus, dem entschiedenen Pazifisten der
Zwanziger Jahre gilt deshalb zunächst die Aufmerksamkeit in den
hier versammelten Untersuchungen, Vortragstexten und Zeitungsartikeln.
Als Gründer des „Neuen Clubs“ 1909, Initiator des
„Neopathetischen Cabarets“ und, bald danach, des Kabaretts
„Gnu“ bewegte er sich im Zentrum der Berliner literarischen
Moderne. Der nimmermüde Handelnde und geistige Inspirator,
Herausgeber und Zeitschriftengründer verfocht und
repräsentierte jenen politisierten, aktivistischen Flügel des
Expressionismus, dessen voluntaristische,
„willenschaftliche“, auf eine
„Geistesaristokratie“ orientierte Komponente ihn bald ins
Leere laufen ließ. Hillers Stil in seinen Abhandlungen, seiner
Kurzprosa, seinen pamphletistischen und aphoristischen Einwürfen,
auch lyrischen Versuchen entsprach dieser intensiven Gerichtetheit, die
mit sprachlicher Skurilität verknüpfte satirische
Schärfe ließ sein rigoroses Streben nach eindeutiger
Klärung und Abgrenzung als Kennzeichen seiner Persönlichkeit
deutlich hervortreten. Auch der Rechtstheoretiker Hitler, früher
Vorkämpfer für eine Reform des Strafrechts, besonders des
Sexualstrafrechts, wird von B. vorgestellt. Umfangreicher als
angebracht, wenngleich sehr aufschlußreich, ist das konfliktvolle
Verhältnis zu Karl Kraus hier einbezogen. Kurt Hiilers Wirken als
„Weltbühnen-Autor“ und in der pazifistischen Bewegung
der Weimarer Republik, unter anderem als Leiter der Gruppe
Revolutionärer Pazifisten, kommt hingegen etwas kurz weg.
Den Nazis war Hiller wegen dieser Aktivitäten und natürlich
auch als Jude einer der bestgehassten Intellektuellen. Viermal wurde er
1933/34 verhaftet und misshandelt und nur infolge von glücklichen
Umständen, die hier resümiert sind, jeweils wieder entlassen.
Im Oktober 1934 entkam er nach Prag, wo er bis 1938 lebte, danach bot
ihm London bis 1955 Exil. Obwohl ihm die Einigung der Linken stets ein
besonderes Anliegen war und er Heinrich Mann verehrte, ist er in die
Bemühungen um eine antifaschistische Volksfront offenbar nicht
sonderlich involviert gewesen. Ein Mann für Bündnisse war
Hiller nicht.
Über die späte Zeit in Hamburg berichtet B, höchst
anschaulich aus eigenem Erleben. Dem jungen Studenten und
Nachwuchswissenschaftler war mit dieser Begegnung der direkte Anschluss
an die avantgardistische und antifaschistische Tradition eröffnet.
Vor allem aber gewannen er und seine Sympathisanten in Hiller einen
entschiedenen Mitkämpfer gegen das Adenauer-System, dessen
restaurative Züge ihre Empörung hervorriefen und dem sie mit
publizistischen Mitteln zu begegnen suchten. So gab B. von 1960 bis
1966 die hektografierte Zeitschrift „LYNX“ heraus, die sich
der Renazifizierung und Remilitarisierung widersetzte und für die
Hiller ein wichtiger Autor und Unterstützer war. Worum es dabei
ging, verdeutlicht B. in einem Artikel zu dessen 80. Geburtstag 1965,
den Jubilar zitierend, es sei das „einzige Ziel von Hoffnung und
Größe: die Weltverbesserung. Wir leiten sie nicht aus
dumpfen Moralen ab; es springt aus unserem schärfsten und
heitersten Denken“ (S.191). Das war, hillersprachlich, ein
großer Anspruch. Je mehr es jedoch in der bundesdeutschen
Studentenschaft zu brodeln begann, erwiesen sich solche Deklarationen
als unzureichend.
B. beschreibt die zunehmende Distanz, die sich im Verhältnis zu
Hiller herausbildete und die sich insbesondere aus dessen Verweigerung
jeglicher Gesellschaftsanalyse und aus seinem ablehnenden
Verhältnis zur Arbeiterbewegung ergab. Als B. sich entschloss, die
Zeitschrift eher einzustellen als einen vernichtenden Artikel Kurt
Millers über Rosa Luxemburg zu drucken, führte das zum Bruch
mit dem prominenten Autor, der sich seiner einzigen Möglichkeit zu
regelmäßiger Publikation entzogen sah. Und als sich Hiller
schließlich gar weigerte, eine Protestresolution gegen die
Ermordung Benno Ohnesorgs zu unterschreiben, war das Verhältnis
endgültig zerbrochen. Dass jedoch B. den historischen Charakter
dieser Vorgänge objektiv einzuordnen vermag, beweist dieses Buch.
Augenfällig war der Remigrant Hiller, wie manch anderer
seinesgleichen, in der Bundesrepublik verhältnismäßig
isoliert, seine Publizität beschränkt. Der von ihm
wiedergegründete „Neusozialistische Bund“ erlangte
kaum politische Bedeutung. Seine radikalen Rundumschläge, sie
reichten von Heidegger bis Marcuse, von Ernst Jünger bis
Günter Grass, und die Missachtung der modernen Medien - er
besaß weder Radio noch Fernseher - trugen ebenso dazu bei wie
auch seine elitäre Sicht auf die parlamentarische Demokratie. Der
Kreis um B. war bemüht, dem entgegenzuwirken. Hillers 75. und 80.
Geburtstag boten Anlässe dafür, wie hier, auch in einem
umfangreichen dokumentarischen Anhang, belegt ist. 1998 dann wurde eine
Kurt-Hiller-Gesellschaft gegründet; der bis 2002 blockierte
Nachlass ist nun zugänglich. Eine wissenschaftliche
Erschließung von Biografie und Werk Hillers steht jedoch noch
aus. Die vorliegende Folge von Aufsätzen B.s aus 20 Jahren ist ein
verdienstvoller Schritt auf diesem Wege. Sie zeigen, dass uns Hiller
auch heute noch viel zu sagen hat, als ein „Wortomane“
besonderer Art, der auf eine eingreifende Literatur aus war, als ein
Intellektueller und Publizist, der stets entschieden für das
Verbot jeglichen Angriffskrieges kämpfte und als einsichtsvoller
Theoretiker, demzufolge die politische und soziale Revolution nicht
zuletzt eine kulturelle Revolution verlangt.
Horst Haase
Besprechung von Günter Grau (Auszug) aus: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 46/47; Mai 2011, S. 74 f.